Dienstag, Oktober 11, 2005

Sollte mal wieder ins Kino gehen

Im Kino: "A History of Violence"
Knirsch, knack
David Cronenbergs neuer Film ist ein Meisterstück.
Von FRITZ GÖTTLER (Aus der SZ kopiert)

Schwer liegt die Glasglocke des Glücks über dieser Familie, schließt sie hermetisch ab von den Irritationen, Aufregungen, Belästigungen der Welt draußen, macht sie unempfindlich gegen jeden Störeffekt. Ein Leben führen diese vier im Hohlraum zwischen Vergangenheit und Zukunft, ein Leben, das keine Bewegung kennt. Wenn dennoch nachts die Tochter, ein blondgelocktes Püppchen, erschreckt aus dem Schlaf hochfährt, sind innerhalb weniger Sekunden die andern drei – Mutter, Vater, Sohn – tröstend und schmusend an ihrem Bett versammelt: Aber Liebes, es gibt doch keine Monster ... Das Frühstück am Morgen darauf ist wie in Trance, eine schwer erträgliche Choreografie der Alltagsfreundlichkeiten, ein unentwegtes „Könntest du mich eventuell ...“ und „Sollte ich dir denn nicht ...“ Einmal wird das wohl sogar dem Sohn Jack (Ashton Holmes) zu bunt, und als der Vater ihn mit Cornflakes versorgen will, grapscht der Sohn ihm fröhlich unwirsch die Schachtel vor der Nase weg. Ansonsten: Normalität, Alltäglichkeit bis zum Gehtnichtmehr. Nehmen wir denn alle, ohne dass wir es merken, an einem riesigen Zeugenschutzprogramm teil, fragte in seiner Besprechung des Films J. G. Ballard – er hatte mit Cronenberg zu tun, als der seinen Roman „Crash“ verfilmte.

Vor dieser Übung in familiärem Somnambulismus hat es allerdings schon eine andere Szene gegeben, in den Morgenstunden vor einem nicht minder schläfrigen Motel. Zwei Männer checken aus, in einer sanften Parallelfahrt, aber wir merken bald, wie dieses „Auschecken“ ausgehen wird. Der eine hat noch einen Stuhl geradegerückt an der Hauswand, wenig später hat er ein Blutbad hinterlassen. Unkontrollierte, unmotivierte Gewalt. Brutalität. Der Wille zur Zerstörung, die Lust am Töten. A history of violence begins ... einer der verstörendsten und faszinierendsten Filme dieses Jahres.

Zwei Welten, unmittelbar aneinander montiert, das macht seit vielen Jahren das Kino des kanadischen Filmemachers David Cronenberg aus. In diesem Film, den er über Amerikas Traum und mit viel amerikanischem Geld gedreht hat, ist diese Art der Montage noch eine Spur härter, brutaler. Des Vaters Verhalten erklärt sich professionell, Freundlichkeit gehört zu seinem Job – wenn er die Leute bedient in seinem Diner, dem Treffpunkt der kleinen Stadt. Viggo Mortensen, der wortkarge, stets ein wenig alternative Held aus „Herr der Ringe“, ist Tom Stall, die Haare hat er hier ein wenig bieder in die Stirn gestrubbelt, aber manchmal, wenn er mit den Augen rollt oder wenn er mit der Kaffeekanne hantiert und zum Ausgleich die andere Hand in die Hüfte legt, spürt man eine alte Verführungskraft, die nun dem Geschäft gut tun soll.

Dieser doppelte Anfang, das ist natürlich amerikanische Twilight Zone pur – eine Idylle, die viel zu intensiv ist und daher nichts Gutes verheißt. Die Provinz im Dornröschenschlaf, und dieser Schlaf wird Monster gebären. Millbrook, Indiana, Einwohnerzahl: 3426. Man kennt die Stadt, aus amerikanischen Western. Man kennt auch die Geschichte, die ihr und ihren Einwohnern widerfahren wird. Die Fremden, die plötzlich eindringen, die Mordbuben vom Motel, terrorisieren Toms Gäste und werden vom friedlichen Tom dafür innerhalb von Sekunden niedergeschossen – mit allen Anzeichen ungeahnter Killer-Professionalität. Another history of violence ... Die Kamera schaut kurz aber genau hin, zeigt den zermatschten, halb weggeschossenen Kiefer. Einen Chirurgen im Regiestuhl hat man Cronenberg immer wieder genannt. „The Shape of Rage“ heißt die Untersuchung, die Dr. Hal Raglan zu diesem Thema gemacht hat – eine der wichtigsten Figuren im Cronenberg-Universum.

Hey, Joey

Western sind Filme aus der Frühzeit der Zivilisation, als gesellschaftliche Ordnung ihre Regeln festsetzte, mit der Hilfe von Gewalt. Immer wieder musste daher einer, der das längst hinter sich glaubte, noch einmal zur Waffe greifen. Der Revolverheld, der die Gesellschaft schützt, aber nicht zu ihr gehören darf, von Gary Cooper bis Dirty Harry. Nun ist es Tom, der diese Rolle übernehmen muss, sie wird ihn in die Schizoität treiben. Er ist ein Held nach dem kleinen Diner-Massaker, aber das ist nur das kleinste seiner Probleme. Ein paar Tage später hockt ein Mann im Diner (Ed Harris), schwarzer Anzug, Sonnenbrille, schrecklich vernarbt, und mit väterlich sarkastischem Ton in der Stimme, wenn er den Mann hinter dem Tresen, der ihm Kaffee schwarz, einschenkt, mit Joey anredet.

Wo Ich war, muss nun Es werden. Tom hat eine Vergangenheit – hat er irgendwann in seiner Frühzeit gar das Töten gelernt? Seine Tat wird Katalysator, lockt das Gewaltpotenzial hervor, das die Familie, die Stadt bislang in Ritualen beherrscht hat, beim Baseball und seinen jugendlichen Machtspielen, im wilden Liebesakt der Langvermählten – zu dem Edie (Maria Bello) im alten Cheerleader-Dress Tom im Bett attackiert.

Cronenbergs Film ist eine klassische Coming-Out-Geschichte, und darin seinem Meisterwerk „Videodrome“ vergleichbar. In beiden Filmen geht es um die Faszination neuer Erfahrungen, körperlicher, psychischer, geistiger – und immer sind diese mit Aggression, mit Gewalt verbunden. Viggo Mortensen und James Woods sind Brüder im Geiste und in der Physis. Sie lernen ihre unbekannten, unterdrückten, in die Vergangenheit verdrängten Lüste kennen. Gesellschaftliche Harmonie kann nie unschuldig sein, aber dieses Unbehagen in der Kultur macht Cronenberg nicht zum vordergründigen Moralisten. Man weiß aus seinen Filmen, dass nichts so schrecklich ist im Kino wie brechende Knochen. Es gibt auch in diesem Film einige dieser unschönen Momente, die Knackpunkte der modernen Zivilisation. Vor dem Familienmenschen Tom hat es Brüderhorden gegeben, die Gangs of Philadelphia. Als er von den Unbekannten erneut gestellt wird, ist plötzlich eine sanfte Helligkeit um ihn, ein Schimmer liegt über dem Gesicht. Er wirkt erleuchtet, wenige Sekunden später wird er wieder zuschlagen.

Selten hat einer so gelassen die alten etablierten Mythen zurechtgerückt wie Cronenberg in diesem Film, die festgefügten Geschichten, die offensichtlich andersherum erzählt werden müssen. Kain war gefährlich, mag sein, aber viel gefährlicher ist, wenn Abel, der sanfte, zivilisierte Bruder, seine mörderischen Instinkte neu entdeckt.

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